Start-ups setzen auf neue Geschäftsmodelle

Mit finanziellem Schub vom Mutterkonzern und freier Hand in der Strategie können Start-ups wendig agieren und schnell wachsen. Dieses Venture Capital Building nutzen inzwischen einige große Unternehmen – etwa die medizinische Plattform alley.

Von Hendrik Bensch

Manuel Mandler war auf der Karriereleiter sehr weit oben angekommen, als er sich entschloss, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Bei der Gothaer Krankenversicherung war er Hauptabteilungsleiter Operations und Chief Digital Officer. Doch er war bereit, für seine Geschäftsidee komplett neu zu starten. alley heißt das Start-up, das er aufgebaut hat. Das Kölner Jungunternehmen ist eine medizinische Plattform, die Patienten mit Knie- und Hüftbeschwerden helfen soll, ihren optimalen Behandlungspfad zu finden – und Lücken zu schließen, die an den Schnittstellen in der Versorgung entstehen. Als Mandler Mitte 2018 mit seiner Idee an den Vorstand der Gothaer herantrat, machte er deutlich, wie ernst es ihm war. „Ich habe klargemacht: Wer in dieser Position alles aufgibt, der will etwas erreichen.“

Seine Idee und sein Wille überzeugten. Die Gothaer erwarb einhundert Prozent der Unternehmensanteile als strategisches Investment des Start-ups und investierte eine zweistellige Millionensumme. Erst im Oktober 2019 gestartet, hat das Start-up trotz der schwierigen Bedingungen während der Coronapandemie bereits 19 Kliniken als Partner und kooperiert mit der DAK und weiteren gesetzlichen Krankenkassen. Neben der Gothaer sind auch andere private Krankenversicherungen interessiert.

Dass alley trotz der Corona-Widrigkeiten so schnell Fahrt aufnehmen konnte, hat damit zu tun, dass Mandler und seine Kolleginnen und Kollegen freie Hand haben. „Die Gothaer ist zwar alleiniger Gesellschafter, redet uns aber nicht rein“, sagt Mandler. Vonseiten des Krankenversicherungskonzerns gibt es weder Vorgaben zur Strategie noch zum Controlling.

Das Kölner Start-up steht damit für ein Modell, das sich in letzter Zeit einige Großunternehmen zunutze gemacht haben: Venture Capital Building (VCB). Dabei entsteht neben einem bereits etablierten Unternehmen ein neues, eigenständiges Unternehmen in Form eines Start-ups von null auf – im Gegensatz zu Acceleratoren, die bereits bestehende Start-ups fördern. Beim VCB unterscheidet sich das Geschäftsmodell grundsätzlich von dem des Mutterunternehmens, das die Finanzierung übernimmt.

Branchenexperten sehen das Modell unter anderem gegenüber Innovationslaboren im Vorteil. So fehlten den Ideen aus den Laboren „oft die strategische Relevanz, angemessene Kennzahlen, um den Erfolg zu messen, die Unterstützung der Führungsebene und die Akzeptanz innerhalb des Ökosystems des Unternehmens“, schreiben Felix Staeritz und Sven Jungmann in ihrem Buch „Das entscheidende Jahrzehnt“. Was die Labore zudem vom Venture Capital Building unterscheidet ist: Dort geht es häufig darum, schnell eine Lösung für ein bestimmtes Problem zu finden oder das bestehende Geschäftsmodell weiterzuentwickeln – nicht jedoch darum, ein komplett neues Geschäftsmodell aufzubauen.

Manuel Mandler weiß aus Erfahrung, wie wichtig es ist, dass sich ein Start-up völlig losgelöst vom Mutterkonzern entwickeln kann. Der alley-CEO war vor seiner Karriere bei der Gothaer IT-Consultant außerhalb der Versicherungsbranche und setzte dabei Projekte mit einem Volumen von mehr als 100 Millionen Euro um. „Bei großen Mittelständlern genauso wie bei Konzernen hat die Unternehmenskultur starke Anziehungskräfte“, sagt Mandler. Setze man ein Schnellboot, wie etwa ein firmeneigenes Start-up ins Wasser, und fahre los, kämen schnell die Gravitationskräfte, die das Boot zurückziehen. Denn jede Abteilung – vom Personal bis zum Controlling – wolle mitreden, auch der Betriebsrat sich einbringen. All diese Kräfte bremsen das Schnellboot immer weiter – bis es zum Stillstand kommt.

Das Kölner Start-up kann hingegen flexibel vorwärtsgehen. Und das war angesichts der Herausforderungen in den vergangenen beiden Jahren auch nötig. „Wir haben unsere Strategie in den letzten zwei Jahren dreimal gedreht“, so Mandler. Corona erschwerte den Aufbau. Zudem trat in der Anfangsphase des Start-ups das Digitale-Versorgung-Gesetz in Kraft, auf das die Kölner reagieren mussten. „Da haben wir wieder unsere Strategie geändert.“

Wendige Schnellboote wie alley, die neue Geschäftsmodelle abseits vom Mutterkonzern entwickeln, wurden in den vergangenen Jahren von einigen großen Unternehmen zu Wasser gelassen. Ben Fleet Services ist ein weiteres Beispiel für eine solche Neugründung mittels Corporate Venture Building. Das Start-up wurde vom Energiekonzern EnBW und dem Company Builder Bridgemaker gegründet. Es bietet Fuhrparkmanagern und Flottenbetreibern über ein Onlineportal Management-Dienstleistungen an. Ben Fleet Services prüft, repariert und hält Fahrzeuge eines Fuhrparks instand. Es zahlt somit auf die neuen Aktivitäten von EnBW im Bereich Mobilität ein. Ein anderes Beispiel für ein eigenes Corporate Venture ist das Start-up Solytic, das der Energiekonzern Vattenfall 2017 bei der Gründung begleitete. Das Start-up überwacht Photovoltaik-Anlagen digital und hat seine Software nach gerade einmal vier Jahren bereits mit 120.000 PV-Anlagen verbunden.

alley konzentriert sich in seinem Geschäftsmodell auf die Therapiebegleitung von Patientinnen und Patienten mit akuten oder chronischen Beschwerden des Hüft- und Kniegelenks bis hin zur gesicherten Diagnose einer Cox- und Gonarthrose. Ab dem nächsten Jahr sollen Patienten mit Rücken- und Schulterbeschwerden hinzukommen. Zentral ist dabei der „Value-based Medicine“-Ansatz: Patienten werden ganzheitlich betrachtet, auch mit Blick auf ihre sozialen Lebensumstände. Wert und Erfolg einer Behandlung werden nicht mehr allein an medizinischen Parametern gemessen. Es spielt zudem eine Rolle, welche Erwartungen die Patienten mit Blick auf den Zugewinn an Lebensqualität durch die Behandlung haben. Die Daten der einzelnen Patienten werden allen an der Therapie beteiligten Leistungserbringern zur Verfügung gestellt – um so Therapien stärker auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten zuzuschneiden und Informationslücken, wie zwischen Klinikärztinnen und -ärzten und ambulanter Versorgung, zu vermeiden. „Wir wollen so Value-based Healthcare nach vorne bringen“, sagt Mandler.

Um das Ziel zu erreichen, können die Patientinnen und Patienten entweder über die alley-App oder mithilfe von CareManagern Informationen zusammenstellen, die später für die Behandlung wichtig sind. Dabei beantworten sie nicht nur Fragen zum Gesundheitszustand oder Komorbiditäten, sondern etwa auch zu Risikofaktoren, die auf den Heilungsverlauf einwirken. Darüber hinaus geben sie Auskunft über ihre Lebenssituation – zum Beispiel, ob sie allein zu Hause wohnen. Und die Patienten formulieren ihre Erwartungen: Das kann dann beispielsweise sein, dass sie nach einer Operation wieder eine Stunde spazieren gehen wollen. Mithilfe der App und der Befragungen durch die Care-Manager kommen viele Informationen zusammen. „Von den bisher etwa 3.000 Patienten haben 85 Prozent 88 Prozent der Fragebögen ausgefüllt“, sagt Mandler.

Behandlerinnen und Behandler können sich die aufgearbeiteten Informationen in Form eines Dashboards anzeigen lassen, beispielsweise Übersichten zu Vorerkrankungen, Allergien und anderen Risikofaktoren oder ein Screening zum Sturzrisiko. All die Informationen sollen den Kliniken in ihrem Workflow-Management helfen. Denn da hapert es noch sehr, wie alley aus Gesprächen mit den Partnerkliniken weiß. „Patienten werden in großen Kliniken fünf- bis siebenmal mit denselben Fragen konfrontiert“, so Mandler. Die Informationen von alley sollen diese Wiederholungen überflüssig machen.

Für die Patienten und die Kliniken sind die Angebote kostenlos. Das Start-up finanziert sich über Zahlungen der Kassen oder privaten Krankenversicherungen.

Als Teil seines Value-based-Medicine-Ansatzes arbeitet alley zusammen mit der Initiative Endocert auch an einem Qualitätscore für die operative Hüft- und Knieversorgung. Gemeinsam wollen sie ein Qualitätsregister für die Orthopädie aufbauen. In dieses Register sollen nicht nur die medizinischen Daten der Patienten fließen, sondern auch soziale Gesundheitsdeterminanten –beispielsweise die psychische Situation. „Das sind Compliance-relevante Daten, die für die Bettensteuerung der Kliniken sehr wichtig sind“, sagt Mandler. Denn sie helfen den Ärzten, die Patienten besser im Vorfeld der Behandlung einzuschätzen und zu wissen, worauf sie achten müssen, so der alley-CEO.

Mit seinem Angebot will alley in Deutschland Marktführer für medizinische Patientenplattformen im Bereich Orthopädie werden, so das Ziel. Dabei konkurriert das Start-up mit Kaia, myoncare und Philips. alley blickt aber auch bereits auf internationale Märkte. Interessant sind für das Start-up solche, die bereits auf Value-based Healthcare setzen, wie beispielsweise einige skandinavische Länder. Und wer weiß: Vielleicht ist bis zum Ablegen aus Deutschland aus dem Schnellboot schon ein kleines Dickschiff geworden.